T. Amussen u.a. (Hrsg.): Scharlatan!

Cover
Titel
Scharlatan!. Eine Figur der Relegation in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur


Herausgeber
Asmussen, Tina; Hole, Rößler
Reihe
Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 17
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gertis Livia

In acht Aufsätzen setzen sich die Autoren mit Fragen nach der Funktion des Scharlatans auseinander. Zielgebend, so die Herausgeber im Vorwort, sind das Aufzeigen von an die Figur gebundenen Dynamiken und Produktivkräften sowie das Sichtbarmachen der Figur als Symptom des wissenskulturellen Wandels. In der Einleitung führt Hole Rößler die Figur des gelehrten Scharlatans ein und untersucht vertiefend seine soziale Positionierung in Bezug zum Raum des Gelehrten. Als Ergebnis führt er mit dem Aussenseiter, dem Eindringling sowie dem Renegaten des wissenschaftlichen Fortschritts drei Differenzierungen ein (Rößler, S. 140). Fünf der Aufsätze in diesem Sammelband (Bulang, Lorber, Asmussen, Siebenpfeiffer, Hirschi) sind stark biographisch orientiert, doch zeigen sie auf beste Weise, wie vielseitig und produktiv ein solcher Zugang sein kann. Denn die seitens der Geschichtswissenschaft vorliegenden Biographien zu besonders bekannten Fällen frühneuzeitlicher Scharlatanerie sind meist von rein ereignisgeschichtlicher Natur. Am Beispiel Leonhard Thurneyssers zeigt Tobias Bulang nicht nur die Problematik, sondern auch mögliche Strategien eines frühneuzeitlichen Experten zur Sicherung seines Status auf. Vor dem Hintergrund zunehmender Institutionalisierung von Wissensbereichen sind es gerade Habitus und Inszenierungsformen, die den Experten von seinem Gegenteil scheiden (Bulang, S. 166). Michael Lorber beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der Rezeptionsgeschichte zu Johann Joachim Becher seitens der historia literaria. Lorber löst Becher aus den bekannten stereotypen Zuschreibungen und betrachtet ihn als eine Wissensfigur, die durch das Sammeln und Aufbereiten von Wissen neue Ordnungen von Wissen hervorbringt. Perspektivisch ist der Aufsatz auf die ökonomischen Aspekte, vorrangig natürlich der Alchemie als dem politisch wie ökonomisch relevanten Wissen schlechthin, ausgerichtet. Lorber exemplifiziert seine Thesen anhand der Gründung der Royal Society, einer Institution, die sich auf experimentelle Naturforschung gründet (Lorber, S. 205). Auch der Beitrag von Tina Asmussen folgt einer Biographie. Am Beispiel des als «grausamer Alchemysten Feind» (Asmussen, S. 215) bekannten Athanasius Kircher legt sie die soziale Produktivität von Streitkulturen wie auch die medialen Zirkulationswege von Kritik offen, indem sie den Diskurs der Scharlatanerie als Teil von wissenschaftlicher Kommunikation selbst betrachtet. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die zeitgenössische Differenzierung in wahre und falsche Alchemisten und verdeutlicht die Bedeutung von Augenzeugenschaft als Referenz wie auch die des geglückten Experiments als Beweis wahren Könnens. Jessica Korschanowski untersucht den Scharlatan als ikonographische Negativfigur der nordniederländischen Genremalerei. Diese, so die These, fungiert nicht nur als Methode der Darstellung von Wissen, sondern als die gezielte Umsetzung der zeitgenössischen und polemischen Auseinandersetzung der Experten- und Kompetenzfrage. Auch überführt Korschanowski den Scharlatan eines doppelten Betrugs: Er betrügt erstens mit seiner Selbstinszenierung und zweitens mit einem Produkt, dessen Verkauf ihm erstere ermöglicht. Mit Livio Burattinos dragon volant erhebt Hania Siebenpfeiffer ein wissenschaftliches Experiment zum Untersuchungsgegenstand, das sich am lebendigen Objekt vollzieht. Im Flugversuch wird Erfolg wie Scheitern des «Scharlatans der Luft» (Siebenpfeiffer, S. 294) gleichermassen sichtbar. Siebenpfeiffers These folgend bewegt sich die Wissenskultur Europas im ausgehenden 17. Jahrhundert zwischen Betrug und Wissenschaft und ist gerade deshalb auf den Scharlatan als Figur, die ebendieser Konstellation entwächst und damit mitten im Wissens- und Wahrheitsdiskurs angesiedelt ist (Siebenpfeiffer, S. 289), angewiesen. Klara Vanek widmet sich in ihrem Beitrag einem satirischen Beispiel der Gelehrtenkritik und Ärzteschelte: dem Machiavellus Medicus. Dieser soll im Gegensatz zu den moralisch aufgeladenen Vorbildern stehen und liest sich als Anleitung zum profitablen Ärztebetrug. Der gute Fürst Machiavellis wird hier zum guten Arzt, der Tyrann übergibt seinen Part des Gegenspielers an den selbstsüchtigen Scharlatan (Vanek, S. 325). Am Beispiel des Eigennutzes, der nicht nur das Wohl des Patienten hintenanstellt, sondern gezielten Rufmord zu Werbe- und Verkaufsstrategie macht, thematisiert Vanek eine weitere ökonomische Seite der Scharlatanerie. Auch der Aufsatz von Caspar Hirschi zeigt, dass vermeintlich breit erforschte Biographien, wie die Franz Anton Mesmers, durchaus Potential für weitere Auseinandersetzungen bieten. Anhand der zeitgenössischen Frage nach der Glaubwürdigkeit von Mesmers Magnetismus-Kuren problematisiert Hirschi nicht nur die Rolle des wissenschaftlichen Experten, sondern im Allgemeinen den Umgang der institutionalisierten Wissenschaften mit deklarierten Pseudowissenschaften. Neben den Möglichkeitsräumen, die vermeintlich neue Wissenschaften als Karriere bieten, zeigt Hirschi auch, welche Rolle der Öffentlichkeit als Konsumentin neuer Wissenschaftspraktiken zukommt.

Facettenreich verhandelt der Band die Figur des Scharlatans nicht nur als Produzent von Scharlatanerie, sondern auch als Effekt gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Bedingungen selbst. Besonders die Beobachtung von Wissen und dessen Produktionsmöglichkeiten zwischen Tradition und Fortschritt unter Bezugnahme auf die zeitgenössischen Formen politischer und moralischer Ökonomie betont einen elementaren, aber oft wenig bedachten Aspekt in der Auseinandersetzung mit frühneuzeitlichen Figuren. Der Anspruch, figurative Funktionen herauszuarbeiten, wurde gerade in den Betrachtungen zum Scharlatan als Negativbild des idealen Gelehrten bestens erfüllt. Die Vielseitigkeit dieser Figur, die gewissermassen als Grenzläufer sowohl gesellschaftliche Grenzen markiert als auch diese unterwandert, wird deutlich, jedoch wäre hier eine stärkere inhaltliche und warum nicht auch theoretischere Auseinandersetzung mit dem Begriff der Relegation möglich gewesen. Die Aufsätze können im Ganzen wie auch einzeln durch ihre Geschlossenheit überzeugen. Möglicherweise führt aber gerade diese zu einigen Redundanzen, die die allgemeiner gehaltenen definitorischen Spezifikationen des Scharlatans betreffen: Zum Beispiel in Bezug auf Johann Burkhard Mencke und sein für den Scharlataneriediskurs wegweisendes Werk De Charlataneria Eruditorum (siehe die Beiträge von Rößler, Asmussen, Korschanowski, Siebenpfeiffer) oder auch hinsichtlich Diderots Definition von Scharlatanerie in der Encyclopédie (siehe hierfür Siebenpfeiffer, Hirschi). Der durchweg positive Gesamteindruck wird dadurch aber keineswegs geschmälert, so dass dies eher ein Hinweis für künftige Publikationsprojekte sein soll. Denn mit diesem Titel ist ein ebenso wertvoller wie anschlussfähiger Beitrag nicht nur für die frühneuzeitliche Wissenschaftsgeschichte erschienen. Und nicht zuletzt aufgrund des abwechslungsreichen Quellenmaterials muss die Lektüre als ebenso unterhaltend wie gewinnbringend empfohlen werden.

Zitierweise:
Livia Gertis: Rezension zu: Tina Asmussen und Hole Rößler (Hg.), Scharlatan! Eine Figur der Relegation in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 491-493.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 491-493.

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